Handbike im Klageverfahren durchgesetzt
Mehr als vier Jahre musste Jutta Ahrens um ihren „Speedy Versatio“ kämpfen, denn mit einem normalen Rollstuhl war ihr ein selbstständiges Leben nicht mehr möglich. Erst als der VdK das Verfahren übernahm, kam Bewegung in den Fall.
Jutta Ahrens ist ein sehr aktiver Mensch, der ungern auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Seit einem Schlaganfall mit Lähmung der rechten Körperhälfte brauchte sie einen Rollstuhl – grundsätzlich kein Problem für die Mittfünfzigerin. Doch weitere Krankheiten wie Rheuma und Osteoporose führten dazu, dass sie sich mit ihrem bisherigen Rollstuhl nicht mehr allein fortbewegen konnte. Deshalb beantragte sie im Jahr 2018 ein Handbike (Rollstuhlzuggerät) mit Elektroantrieb bei ihrer Krankenkasse. Diese aber fühlte sich nicht zuständig, weil sie die Frau bereits mit einem Aktivrollstuhl ausgestattet hatte und so der Meinung war, Jutta Ahrens sei ausreichend versorgt.
Zu wenig Kraft
„Dass ich wegen meiner Lähmung aber nicht mehr die nötige Kraft in den Armen hatte, um den Aktivrollstuhl fortzubewegen, hat die Krankenkasse nicht verstanden – oder vielleicht sogar ignoriert“, vermutet Ahrens. Sie wandte sich daraufhin an ihre VdK-Geschäftsstelle Oldenburg-Land. Denn die Kasse reichte den Antrag auf das Handbike weiter an den Landkreis Oldenburg als zuständigen Sozialhilfeträger. „In einem solchen Fall muss der zweitangegangene Träger – also der Landkreis – dann nach allen in Frage kommenden Anspruchsgrundlagen aus dem Sozialgesetzbuch prüfen“, erklärt VdK-Jurist Dirk Künzel.
Als gemeinsamer Vorschlag von Landkreis und Krankenkasse sollte nun ein Elektrorollstuhl dienen. Weil ihr eigentliches Problem aber noch immer nicht verstanden wurde, reichte Jutta Ahrens mit Hilfe des VdK schließlich Klage beim Sozialgericht Oldenburg ein. „Der Elektrorollstuhl hilft mir kein bisschen weiter, denn ich kann aufgrund der fehlenden Kraft in den Armen weder alleine ein- noch aussteigen, sondern bin ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Ich komme damit nicht einmal zu meiner 300 Meter entfernt wohnenden Nachbarin – so viel zum Thema Selbstständigkeit. Das Handbike hingegen lässt sich problemlos vor meinen jetzigen Rollstuhl spannen, sodass ich nicht umsteigen muss. Außerdem bleibt mein gelähmter Arm durch die Handkurbeln in Bewegung und der Elektroantrieb hilft mir, die fehlende Kraft auszugleichen.“
Vier Jahre ohne ausreichende Versorgung
So sah es schließlich auch der angesprochene Richter in der mündlichen Verhandlung Ende 2022: Behinderung und Mobilitätsbedarf seien unstrittig, die bisherige Versorgung mit dem Aktivrollstuhl völlig unzureichend und der Anspruch auf ein Handbike sei nicht von der Hand zu weisen. Das Handbike ist erforderlich, um die Behinderung der Klägerin auszugleichen, lautete schließlich sein Urteil.
„Das Interessante an diesem Fall war, dass eine Kammer des Sozialgerichts, die normalerweise für Sozialhilfe zuständig ist, jetzt über einen Fall urteilen musste, der im Krankenkassenrecht spielt. Man sieht aber an dem Urteil, dass das System der Teilhabeverfahren funktioniert und die Behörden nicht die Zuständigkeit wie beim „Ping-Pong-Spiel“ hin- und herschieben können. Leider führt das häufig zu unnötig langen Verfahren. Über das Ergebnis freut sich unser Mitglied aber umso mehr: Im Frühjahr 2023 hat sie endlich das langersehnte Handbike erhalten!“, fasst VdK-Jurist Künzel den Fall zusammen.
Rechtsprechung
Ein für diesen Fall richtungsweisendes Urteil hatte der VdK beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen schon im Herbst 2022 erstritten (Urteil vom 13. September 2022 – L 16 KR 421/21). Dadurch wurde das Selbstbestimmungsrecht von Rollstuhlfahrern deutlich gestärkt. Mit dem gewünschten Hilfsmittel soll das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs ermöglicht werden, so ist es in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Den Betroffenen sollte dabei viel Raum zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände gelassen werden.