Kategorie Behinderung Gesundheit

Die Krankheit ME: ein Leben am Abgrund

Ein Albtraum. Das, was Sarah (Name geändert) und ihr Mann durchmachen, lässt sich nicht anders bezeichnen. Vor 5 Jahren erkrankte sie an Myalgischer Enzephalomyelitis (ME). Damals war sie knapp 30 und fasste nach dem Jurastudium gerade beruflich Fuß. Mit einem banalen Infekt änderte sich ihr gesamtes Leben – sie bekam ME. Über zwei Jahre war sie komplett bettlägerig. Und auch jetzt ist ihr Leben vollständig von der Krankheit bestimmt.

Eine Person liegt im Dunkeln im Bett, daneben Kopfhörer und Schlafmaske
© Fotocredits Lea Aring

Sarah sagt, dass ME-Kranke keine Stimme haben, nicht gesehen werden. Der Grund ist, dass ME in Deutschland so gut wie nicht erforscht wird und die Ärzte sie größtenteils nicht einmal kennen. Somit stehen Betroffene meist alleine da. Wir möchten Sarah eine Stimme geben.

Sie haben eine Krankheit, die in Deutschland noch unbekannt ist. Was hat das für Folgen für Sie?

Ich bekomme keinerlei Unterstützung, nur die von meinem Mann und meiner Familie. Meine Krankenkasse hat die Schwere meiner Krankheit nicht akzeptiert, trotz meiner Blutwerte und Bescheinigungen meiner Ärzte. Sie verfolgte die völlig veraltete Leitlinie „Chronische Müdigkeit“, die vor allem Sport und Psychotherapie empfiehlt. Dabei ist längst nachgewiesen, dass Bewegung den Zustand bei ME nur verschlimmert. Meine Krankenkasse wollte, dass ich eine Reha mache. Zu der Zeit war ich aber bettlägerig und hätte noch nicht einmal die Fahrt dahin geschafft. Und einen Gerichtsprozess erst recht nicht.

Als ME-Patient werde ich überhaupt nicht ernst genommen oder gleich für psychisch krank erklärt. Eine Ärztin vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen sagte zum Beispiel zu mir: „Ich empfehle eine Reha, denn es kann ja nicht Ihre Entscheidung sein, wann Sie sich bewegen und wann nicht.“ Dabei gilt in Deutschland doch immer noch laut Grundgesetz die allgemeine Handlungsfreiheit eines Menschen. Außerdem ist das ja gerade das Zynische an meiner Situation: Nicht ich bin es, die das entscheidet, sondern meine Krankheit! Dieses Gespräch mit der Ärztin hat mich sehr traumatisiert.

Wie äußert sich denn die Krankheit?

Ich muss den ganzen Tag, am besten liegend, im Bett bleiben. Morgens nach dem Duschen muss ich zum Beispiel sofort wieder ins Bett und mich mindestens zwei Stunden ruhig halten, damit ich wieder Kraft tanke. Jedoch ist das wie bei einer alten Batterie, die man nur bis zu einem gewissen Punkt wieder aufladen kann, aber nicht mehr vollständig.

Wenn ich mich nicht genügend schone, dann crashe ich – so nennen wir ME-Kranke das. Der Fachausdruck ist dafür Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion, kurz PENE. Das bedeutet, dass alle Symptome viel, viel schlimmer werden. Ich muss dann im Dunkeln liegen. Aber ich habe so starke Schmerzen, dass ich nicht weiß, wie ich liegen soll. Mir tut einfach alles weh, ich kann nichts essen, hab Krampfanfälle. Der Horror. Wenn ich mich dann nicht sofort hinlege, falle ich am Ende einfach in Ohnmacht. Der Crash kommt nach körperlicher Anstrengung wie Bewegung, Besuch, zu vielen äußerlichen Reizen, aber auch Infektionen und Krankenhausbesuchen.

Ich muss jeden Tag Schmerzmittel nehmen. Essen geht nur püriert, weil ich Schluckkrämpfe habe – ein neurologisches Phänomen. Ich habe durch ME massive Schlafstörungen und muss Schlafmittel nehmen. Mein Körper schläft einfach nicht ein. Darum schlafe ich meistens nur so von Mitternacht oder ein Uhr nachts bis vier oder fünf Uhr morgens. Das Schlimmste war einmal, als ich vier Tage und Nächte lang durchgehend wach war.

Können Sie nie raus aus dem Haus? Oder Besuch bekommen?

Schwierig. An sehr, sehr guten Tagen kann ich mit meinem Elektrorollstuhl draußen eine kleine Runde von ungefähr zehn Minuten machen. Das ist der absolute Wahnsinn für mich! Ich liebe die Natur und genieße jede Sekunde. Danach muss ich mich auch wieder eine Zeit lang im Bett aufhalten. Besuch von einer Freundin geht manchmal. Ich crashe zwar meistens an den folgenden Tagen, aber das ist es mir wert. So halte ich meine Seele auf Kurs.

Was macht das mit Ihnen?

Ich führe ein enges, begrenztes Leben, das von Leid und Verlust geprägt ist. Verlust von Freunden, von Lebensgefühl. Isolation, Minderwertigkeitsgefühlen, aber auch Schuldgefühlen zum Beispiel gegenüber meinem Mann, der mit mir keine Kinder haben wird, nicht in den Urlaub fahren kann und so weiter. Ich kann nicht an Hochzeiten teilnehmen, nicht die Kinder meiner Freunde kennenlernen und nicht zur Beerdigung meines eigenen Vaters gehen, der sterbenskrank ist.

Aber ich muss trotz allem einfach dankbar sein. Ich habe meinen Mann, der mich unterstützt. Außerdem geht es mir noch verhältnismäßig gut. Ich bin noch nicht am unteren Ende. Lange noch nicht!

Was heißt das?

Ich habe Freunde mit ME über das Internet kennengelernt. Vielen geht es viel, viel schlechter. Sie müssen Tag für Tag im Dunkeln liegen, haben eine Bettpfanne, sind vollkommen hilflos, haben Krampfanfälle, sobald ein kleiner Reiz auf sie einbricht. Da reicht schon ein zu helles Handylicht oder ein Geräusch. Die liegen dort mit Augenbinde und Hörschutz. Und das jahrelang oder sogar jahrzehntelang! Das wird dann auch lebensbedrohlich. Die schlimmsten Fälle bekommt aber niemand zu Gesicht, weil die zu schwach sind, um ins Krankenhaus zu kommen.

Was könnte Ihr Leben verbessern?

Zwei Dinge. Wenn die Krankheit, wie in den USA und Dänemark, anerkannt wäre als das, was sie ist, müsste ich keine Angst mehr haben, zu einem neuen Arzt zu gehen und dort nicht ernst genommen oder gar in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Familien, in denen ein Kind an ME erkrankt ist, müssten nicht mehr befürchten, dass ihnen das Kind weggenommen wird, weil die Mutter unter Verdacht steht, das Kind krank zu halten.

Es wäre gesetzlich vorgeschrieben, dass Krankenhäuser und Ärzte Rücksicht auf uns nehmen und zum Beispiel Licht und Lärm beim Besuch eines ME-Patienten reduzieren. Dann würde ein Termin beim Arzt nicht gleich eine Verschlechterung des gesamten Zustands bedeuten. Wir hätten ein Recht darauf, zuhause behandelt zu werden, zum Beispiel vom Zahnarzt oder bei Check-ups.

Das zweite sind Forschungsgelder. Hier in Deutschland wird nichts getan! Es fließt deutlich mehr Geld in Untersuchungen nach dem Grund, warum Männer im Alter ihre Haare verlieren. Wie kann das sein? Schließlich gibt es allein in Deutschland rund 240.000 Erkrankte. Wir brauchen Forschung. Das ist das einzige, das uns retten kann. Wenn nicht bald etwas passiert, werden wir alle an irgendeiner Sekundärerkrankung, an der man eigentlich nicht sterben muss, sterben, weil man uns nicht behandeln kann.